Süddeutsche Zeitung, 18./19. Juli 2020
Dranbleiben
Anerkennung, soziale Kontakte, ein strukturierter Tagesablauf: Viele Menschen wollen im Rentenalter weiterarbeiten – vor allem solche, die eigentlich kein Geld mehr verdienen müssten. Doch das ist gar nicht so einfach
Von Nicole Grün
Spätestens mit 64 Jahren zählen viele Deutsche die Tage, bis sie den Ruhestand antreten dürfen. Nie wieder früh aufstehen müssen, Haus und Garten auf Vordermann bringen, endlich reisen – davon träumen angehende Rentner und Pensionäre, so jedenfalls ein gängiges Vorurteil. Bei Karl Wulftange war alles anders. Ihm jagte die Vorstellung, nicht mehr zu arbeiten, einen gehörigen Schrecken ein.
Nach 40 Jahren in führenden Positionen im Vertrieb lief sein Vertrag als Geschäftsführer einer Firma für Mikrowerkzeuge aus, und er musste sich die Frage stellen: Was jetzt? Statt sich die Zeit bis zum offiziellen Rentenbeginn arbeitslos zumelden, startete der Ingenieur für Fertigungstechnik mit 64 Jahren noch einmal durch. „Ich dachte mir, solche Typen wie mich, die in den Fünfziger-, Sechziger-, Siebzigerjahren die Wirtschaft aufgebaut und stark berufsorientiert gelebt hat, gibt es jede Menge“, sagt er. „Sie alle fallen spätestens ein Jahr nach Renteneintritt in ein tiefes Loch, wenn sie das Haus gestrichen, den Garten umgegraben und keine Aufgabe mehr haben. Dann sitzen sie zu Hause rum, wissen nichts mehr mit sich anzufangen und gehen ihrer Frau auf die Nerven.“ Weil der Ruhestand viele Rentner frustriere, der Wirtschaft wertvolles Knowhow verloren gehe und manche Firmen spezielles Wissen benötigen, aber deshalb niemanden einstellen möchten, gründete er „Die Silberfüchse“, eine Jobvermittlungsagentur für Rentner. Seine Senior Experten sind vorwiegend Ingenieure zwischen 65 Jahren und Ende 70, die ihr Fachwissen als selbständige Berater in zeitlich befristeten Projekten an Unternehmen weitergeben – wie auch Wulftange selbst, der gleichzeitig mit den Silberfüchsen eine Consultingfirma gegründet hat. Einen Tag pro Woche berät er nun Betriebe in Vertriebsfragen. „Dort bin ich immer der Älteste“, erzählt er. „Es ist ein schönes Gefühl, in einer Runde mit mehreren Jüngeren zu sitzen, die interessiert zuhören und umsetzen, was man ihnen sagt.“ Dieses Jahr wird Wulftange 75 – und denkt noch nicht daran, aufzuhören.
Damit ist er in guter Gesellschaft: Immer mehr Ruheständler wollen nicht auf dem Altenteil versauern und sind auch im Rentenalter beruflich aktiv. In Deutschland arbeitet nach Zahlen des Statistischen Bundesamts mittlerweile mehr als eine Million Menschen jenseits der Regelaltersgrenze, 20 Prozent davon als sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, der Rest übt Minijobs aus. Nach einer Auswertung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) waren weit mehr als ein Viertel aller Ruheständler in den ersten drei Jahren nach dem Übergang in die Altersrente erwerbstätig. Die Erwerbstätigenquote der 65- bis 69-Jährigen hat sich innerhalb von zehn Jahren mehr als verdoppelt. „Best Ager“ werden sie genannt, „Silver Workers“ oder „Golden Oldies“: Nicht nur Karl Wulftange hat die Vermittlung von Senioren als Geschäftsfeld entdeckt. In Offenbach wurde eigens ein Jobcenter für Senioren gegründet, in Lüneburg vermittelt die IHK rüstige Rentner an Betriebe, die kurzfristig Unterstützung benötigen. Außerdem gibt es zahlreicheOnline-Plattformen, etwa das österreichische Start-up „WisR“, die Schweizer Plattform „Rent a Rentner“, die ursprünglich französische undjetzt auchin Deutschland tätige Agentur „Exper’connect“, die „Automotive Senior Experts“ (ASE) oder das größte deutsche Netzwerk „Senior Experten Service“ (SES), in dem mehr als 12 000 Fach- und Führungskräfte im Ruhestand registriert sind, die Einsätze im In- und Ausland bewältigen – allerdings ehrenamtlich.
Tatsächlich arbeiten die meisten Ruheständler nicht, weil sie auf das Geld angewiesen sind. Zwar spielt auch Altersarmut eine Rolle, besonders Frauen sind davon überdurchschnittlich betroffen. Doch soziale Gründe überwiegen: Laut IAB arbeiten die Rentner und Rentnerinnen zu 90 Prozent, weil es ihnen Freude macht und sie auch weiterhin eine Aufgabe und Kontakt zu anderen Menschen haben möchten. In diesesBild passt auch, dassin den ersten drei Jahren nach Renteneintritt noch knapp 60 Prozent der Menschen mit einem Haushaltseinkommen ab 2500 Euro beruflich aktiv waren, aber nur etwa die Hälfte derjenigen mit einem Einkommen von unter 1000 Euro – der Zuverdienst durch die Weiterarbeit ist bei den Einkommensgrenzen jeweils nicht enthalten. Es arbeiten also vor allem diejenigen weiter, die sich leisten könnten, nichts zu tun. Doch je höher die Qualifikation, desto besser stehen die Chancen, sein Wissen auch im Alter gewinnbringend einzusetzen: Hochqualifizierte können sich leichter selbständig machen und als Berater oder Mentoren arbeiten als zum Beispiel Fabrikarbeiter. Das nennen Soziologen auch den Matthäus-Effekt: Wer hat, dem wird gegeben. Rentner mit niedrigem Einkommen haben oft körperlich anspruchsvolle Arbeiten ausgeführt. Maurer, Dachdecker, Fliesenleger – in Berufen wie diesen ist es oft nicht einmal möglich, bis zur Regelarbeitsgrenze zu arbeiten. Dementsprechend verschlechtern sich bei ihnen auch die Möglichkeiten, im Alter etwas zu der schmalen Rente hinzuzuverdienen.
Doch auch für gut ausgebildete Fach- und Führungskräfte ist es oft nicht einfach, im Job zu bleiben. „Die Nachfrage der Senior-Experten ist groß, das Job-Angebot der Unternehmen ist mäßig“, sagt Silberfuchs Wulftange. Unter den nicht erwerbstätigen Rentnern würden 13 Prozent aller Frauen und 20 Prozent der Männer gerne arbeiten. Doch trotz Fachkräftemangel und demografischem Wandel, der dafür sorgt, dass immer mehr Rentnern immer weniger Arbeitskräfte gegenüberstehen, setzen viele Unternehmen hierzulande eher auf Frühverrentungsprogramme denn auf den Erfahrungsschatz der älteren Mitarbeiter. Das dürfte sich durch die Corona-Krise noch weiter verschärfen. Ein Grund: Für das Gehalt eines langjährigen Mitarbeiters können nicht selten zwei Berufsanfänger beschäftigt werden. „Personalkosten sind immer ein großes Thema. Unternehmen greifen lieber auf Experten zurück, die sie stundenweise bezahlen können, und die nicht auf der Payroll auftauchen“, sagt Wulftange. Deshalb sei die Bereitschaft der Betriebe, Leute jenseits des Rentenalters weiterzubeschäftigen, nicht sehr ausgeprägt. Auch Instrumente wie die 2017 eingeführte Flexi-Rente, die einen flexiblen Übergang vom Erwerbsleben zur Rente ermöglichen und das Arbeiten über die Regelaltersgrenze attraktiver machen soll, ändert wenig daran. „Die meisten Firmen beschäftigen sich nicht mit den Möglichkeiten des Gesetzes und haben keine Konzeption, wie sie ihre verdienten Mitarbeiter weiterbeschäftigen könnten“, sagt Wulftange. Doch es gibt Ausnahmen: Der Technikkonzern Bosch gründete schon vor 20 Jahren den Bosch Management Support. 1700 ehemalige Mitarbeiter, die bis zu 40 Jahre Bosch-Erfahrung mitbringen, werden befristet für Projekt- und Beratungsaufgaben ins Unternehmen vermittelt. Ähnlich funktioniert auch das Senior-Experten-Programm von BMW, das Ruheständlern Einsätze von wenigen Tagen bis zu mehreren Monaten in Voll- oder Teilzeit anbietet. Wem die seltene Möglichkeit geboten wird, im Rentenalter bei seinem Unternehmen weiterzuarbeiten, kann sich glücklich schätzen. Das geht so weit, dass mancher erfolgreiche Senior-Berater seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, weil er den Neid der ehemaligen Arbeitskollegen fürchtet, denen die Firma nach der Verabschiedung in den Ruhestand keinen Beratervertrag angeboten hat.
Wahrscheinlich wissen die Neider, dass sich länger zu arbeiten lebensverlängernd auswirkt – egal ob in Voll- oder Teilzeit, im Minijob oder als hoch dotierter Berater. Das belegt eine Vielzahl von Studien, etwa die des US-Forschers Chenkai Wu von der Oregon State University, der die Lebensläufe von knapp 3000 älteren Amerikanern ausgewertet hat. Das Ergebnis: Jedes Jahr, das die Studienteilnehmer später in Rente gingen, senkte ihr Risiko, vorzeitig zu sterben, um elf Prozent. Um Verzerrungen aufgrund des Gesundheitszustands auszuschließen, teilte Wu die Rentner zu Beginn in zwei Gruppen ein: jene, die sich topfit in den Ruhestand verabschiedeten, und solche, die aus gesundheitlichen Gründen aufhörten zu arbeiten. Auch bei den ungesunden Rentnern sank die Mortalität pro Jahr längerer Arbeit um neun Prozent, unabhängig von anderen Einflussfaktoren. Ältere Studien der University of Maryland und des Hadassah Hospital Mount Scopus in Jerusalem bestätigen ebenfalls, dass Menschen, die im Alter weiterarbeiten, nicht nur gesünder sind und unter weniger schweren Krankheiten oder Behinderungen leiden als Gleichaltrige im Ruhestand, sondern auch länger leben.
Der strukturierte Tagesablauf, die Anerkennung und die sozialen Kontakte führen dazu, dass sich Berufstätigkeit im Alter so positiv auswirkt, ist Wulftange überzeugt. Egal, was jemand beruflich gemacht hat: Jeder braucht im Alter eine Aufgabe, die ihm Spaß macht und Sinn gibt – ob es ein neues Hobby ist, ein Ehrenamt oder eben berufliches Engagement. Denn es ist wissenschaftlich erwiesen, dass das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden und nichts mehr zu können, krank macht. Das zeigt auch eine Studie von Forschern der Universität Yale. Sie wiesen nach, dass Menschen, die kurz vor Renteneintritt ihren Job verlieren, ein dreimal höheres Risiko haben, einen Herzinfarkt zu erleiden. Deshalb sind Politik und Wirtschaft gefordert, durch flexible Teilzeitmodelle, Mentoren-Programme, Minijobs und die Verlängerung von Beschäftigungsverhältnissen ins Rentenalter einen sanften Übergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand zu schaffen. Niemandem ist gedient, wenn ältere Menschen aufs Abstellgleis geschoben werden, nur weil sie einen Stichtag erreicht haben – als würden ihr Wissen und ihre Erfahrung von einem Tag auf den anderen verpuffen. Auch die Älteren selbst sind gefordert: „Siemüssen sich frühzeitig damit beschäftigen, wie sie die dritte Phase ihres Lebens gestalten möchten. Will ich sie selbst gestalten, sodass ich der Handelnde bin, oder will ich der Getriebene sein? Der Getriebene bin ich dann, wenn ich kein Konzept habe“, sagt Wulftange. Der Großteil der angehenden Rentner sei der zweiten Gruppe zuzuordnen. Ihm selbst sei bewusst, dass er in einigen Jahren nicht mehr in Unternehmen gehen könne. „Da sagen die: Was will der alte Sack hier? Wenn diese Dinge nicht mehr funktionieren, werde ich mir wieder die Frage stellen müssen: Was kommt danach? Es ist zeitlich verschoben, aber die Frage wird auf jeden Fall auch auftreten.“
Diese Fähigkeit zur Transformation wird angesichts der stetig steigenden Lebenserwartung immer wichtiger, schreiben Lynda Gratton und Andrew Scott in ihrem Buch „Morgen werden wir 100: Wie das lange Leben gelingt“. Das Leben werde künftig nicht mehr in die drei Phasen Ausbildung, Beruf und Rente unterteilt werden, sondern viel mehr Übergänge und Brüche enthalten, meinen die beiden Professoren der London Business School. Um diese zu meistern, müssen wir uns immer wieder auf neue Lebenssituationen einstellen und vor allem bereit sein, lebenslang zu lernen – auch und gerade im Alter. Und zwar nicht nur, weil wir in Zukunft länger arbeiten müssen, damit wir uns das lange Leben überhaupt leisten können. „Der Mensch kann nur überleben, indem er sich selbst weiterentwickelt. Jeder, der stehen bleibt, jeder, der nichts mehr lernt, jeder, der keine Lust mehr hat, irgendwas zu entdecken und zu gestalten, ist im Prinzip scheintot“, sagt der deutsche Hirnforscher Gerald Hüther. Das Wort „Ruhestand“ darf man deshalb nicht zu wörtlich nehmen.