Süddeutsche Zeitung, 3../4. Juli 2021
Doppeltes Pensum
Spitzensportler trainieren hart – und müssen meistens nebenher noch arbeiten, studieren oder einen Beruf erlernen. Wie schaffen sie das?
Von Nicole Grün
Nur drei Jahre, nachdem er vom Leistungsschwimmen zum Rudersport gewechselt war, wurde Oliver Zeidler 2019 Weltmeister im Einer. „Darauf bin ich stolz, denn das hat davor noch niemand geschafft. Aber vorhersehbar war das nicht“, sagt der 24-Jährige aus dem Landkreis Erding in Oberbayern. Er stammt aus einer wahren Ruder-Dynastie: Der Opa war Olympiasieger, der Vater WM-Vierter, der Onkel zweifacher Weltmeister und die Tante Olympiasiegerin. Bei diesen Genen ist es nicht mehr ganz so verwunderlich, dass Zeidler in kürzester Zeit zum Shootingstar der Ruderszene wurde: Gleich in seiner ersten Weltcup-Saison gewann er 2017 den Gesamtweltcup, holte im selben Jahr bei den World Games eine Goldmedaille auf dem Ruderergometer und heimste seitdem einen Weltmeistertitel, zwei Europameistertitel und einen weiteren Gesamtweltcupsieg im Einer-Rudern ein. Dennoch sagt er: „Rudern ist mein Hobby.“ Was wie Tiefstapelei klingt, ist absolut ernst gemeint. „Ich trete international gegen Vollprofis an und bin der einzige Hobbysportler, der da rumrudert.“ Obwohl der Zwei-Meter-Mann so erfolgreich ist – leben kann er nicht von seinem Sport.
Damit geht es ihm wie einer Schar von hoffnungsvollen Nachwuchsathleten und abgeklärten Medaillengewinnern, ob sie nun deutsche Juniorenmeister sind oder Olympiasieger. „In der öffentlichen Wahrnehmung sind Spitzensportler gleichzeitig Spitzenverdiener“, sagt Klaus Sarsky vom Olympiastützpunkt Bayern. Das stimmt vielleicht im Fußball, doch was die meisten anderen Sportarten betrifft, trügt der Eindruck. Laut einer Studie der Deutschen Sporthilfe von 2018 kommen die mehr als 1000 befragten und von der Stiftung geförderten Spitzensportler auf ein monatliches Durchschnittseinkommen von 1560 Euro – und das bei einer 56-Stunden-Woche, von der sie 32 Stunden für den Sport und 24 Stunden für Berufstätigkeit, Arbeit, Ausbildung und Lernen aufwenden. 25 Prozent der Einnahmen stammen dabei aus privaten Quellen – darunter fallen Finanzspritzen der Eltern ebenso wie eigenes Arbeitseinkommen. Werden nur die sportbezogenen Einnahmen und Ausgaben mit den für Sport aufgebrachten Wochenstunden in Bezug gesetzt, liegt der kalkulatorische Stundenlohn der Athleten bei knapp über fünf Euro. Werden die Gesamteinnahmen zugrunde gelegt, sind es 7,41 Euro – immer noch weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn von 9,50 Euro. Seit 2010 hat sich also nicht viel geändert: Damals rechnete das Bundesinstitut für Sportwissenschaft vor, dass den Athleten nach Abzug von Steuern und den Ausgaben für ihren Sport nur 626 Euro zum Leben bleiben. „Im alpinen Skisport zum Beispiel ist nicht jeder eine Maria Riesch oder ein Felix Neureuther, die sich vermarkten können und Sponsoreneinnahmen haben. Nur wenige Sportler haben mit 30 Jahren ausgesorgt oder einen solchen Marktwert, dass sie damit weiterhin ihre Einnahmen bestreiten können“, sagt Klaus Sarsky. Wer mit 30 aus dem Sport ausscheidet, habe noch über 30 Jahre Berufsleben vor sich. „Dann wird gefragt, was hast du gelernt, was hast du studiert, welche Qualifikationen hast du – ob man irgendwann eine Bronzemedaille in der Leichtathletik gewonnen hat, ist da eher egal.“
Wer dann nicht mit frischgebackenen Abiturienten studieren, mit 16-Jährigen die Berufsschulbank drücken oder im Dschungelcamp landen möchte wie so mancher Fußballer, der nach Karriereende den hohen Lebensstandard nicht mehr finanzieren kann, sollte sich möglichst schon während der Sportkarriere auch um seine berufliche Zukunft kümmern. Dabei hilft Klaus Sarsky, der als Laufbahnberater seit mehr als 30 Jahren Nachwuchssportler fit macht für eine „duale Karriere“ aus Sport und Beruf, wie sie von Deutscher Sporthilfe oder dem Deutschen Olympischen Sportbund propagiert wird. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten. Wohl am bekanntesten sind die etwa 1200 Sportförderstellen bei Behörden wie Polizei, Bundeswehr oder Zoll. Sie erlauben den Athleten, sich ganz auf den Sport zu konzentrieren. „Besonders Wintersportler haben oft eine Stelle bei einer Behörde wie beim Zoll-Ski-Team, weil sich ihre Fehlzeiten kaum mit einem Studium oder einer Ausbildung vereinbaren lassen: Sie sind den kompletten Winter unterwegs auf Wettkämpfen“, sagt Sarsky. Bei der Bundeswehr müssen die Athleten nur einige Laufbahnlehrgänge absolvieren, ansonsten sind sie für Training und Wettkämpfe komplett freigestellt und werden gut bezahlt. Mittlerweile ist auch ein Teilzeitstudium möglich. Allerdings wird der Vertrag mit den Athleten nur jeweils für ein Jahr verlängert: Wer keine gute Leistung mehr bringt, fliegt raus und steht dann oft mit leeren Händen da. Bei der Landes- oder Bundespolizei absolvieren die Sportler dagegen eine richtige Ausbildung und werden anschließend Beamte im mittleren oder gehobenen Dienst. In Brandenburg können Athleten einen Förderplatz bei der Landesfeuerwehr erhalten, in Hessen startete 2020 eine Sportfördergruppe in der allgemeinen Verwaltung, dessen Mitglieder neben dem Leistungssport ein duales Studium absolvieren und später im öffentlichen Dienst arbeiten können. Voraussetzung für die Behördenstellen sind meist Aufnahmeprüfungen und die Zugehörigkeit zu einem Bundeskader.
Auch Oliver Zeidler hatte überlegt, sich um eine Sportförderstelle zu bewerben, doch ihm sagten die Perspektiven nicht zu: „Ich wollte etwas machen, was mir Spaß macht und was ich auch nach dem Sport gerne mache. Da waren Polizei oder Bundeswehr keine Option.“ Nach dem Abitur entschied er sich für eine Ausbildung zum Steuerfachangestellten bei dem Beratungsunternehmen Deloitte, sattelte ein duales Steuerrecht-Studium drauf und ist nun kurz davor, seinen Master abzuschließen – das hebt er sich aber für nach Olympia auf, wo er als heißer Goldmedaillenanwärter gehandelt wird. Gerade ist er von seinem Arbeitgeber für die Olympia-Vorbereitung freigestellt. Ansonsten beginnt der Tag bei ihm um halb sieben Uhr mit zwei Stunden Training. Von neun Uhr an ist er im Büro, wo er in der Mittelstandsabteilung von Deloitte Unternehmen und vermögende Privatpersonen in Steuerfragen berät, bevor um 17 Uhr die zweite Trainingseinheit ansteht. Abends und nachts wird gelernt oder an der Masterarbeit geschrieben. Was nach einem übermenschlichen Pensum klingt, nimmt Zeidler gelassen: Die Doppel- oder Dreifachbelastung kenne er schon aus seiner Schulzeit, damals sei er vor der Schule ins Fitnessstudio nach Erding gefahren und anschließend nach München ins Schwimmtraining. „Ausbildung, Arbeit, Studium und Sport gleichzeitig hinzubekommen, war natürlich ein ziemlich heftiger Plan, aber am Ende ist alles aufgegangen. Ich habe keine Zeit verloren“, sagt Zeidler. Und er ist noch lange nicht am Ende seiner sportlichen wie beruflichen Karriere angelangt: Die Ziele nach dem Master lauten Steuerberater-Examen und MBA – am besten in Oxford oder Cambridge, wo er dann bei der legendären Regatta mitrudern möchte. „Wenn ich im Sport auf Weltklasseniveau unterwegs war, möchte ich im Beruf etwas Ähnliches erreichen“, sagt er.
Nicht jeder Topathlet möchte beruflich eine solche Bilderbuchkarriere hinlegen. Doch laut Laufbahnberater Sarsky ist die Studierneigung der Sportlerin den letzten 20 Jahren massiv gestiegen. Das deckt sich mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Außerdem gebe es unter den Spitzensportlern einen hohen Anteil an Gymnasiasten. Damit sie Sport und Studium besser kombinieren können, bekommen sie an den etwa 170 „Partnerhochschulen des Spitzensports“ Erleichterungen wie eine Studienzeitstreckung oder ein Vorwahlrecht, um benötigte Kurse auch wirklich belegen zu können. In zehn Bundesländern gibt es sogar eine Quote für Spitzensportler in zulassungsbeschränkten Studiengängen. Was die Berufsausbildung betrifft, arbeiten die Laufbahnberater der Olympiastützpunkte mit Firmen zusammen. „Tendenziell ist es mit größeren Unternehmen leichter als mit einem kleinen Handwerksbetrieb, der nur zwei Lehrlinge hat und einer davon fehlt übertrieben gesagt die Hälfte der Zeit wegen Training oder Wettkämpfen“, sagt Sarsky.
Unternehmen, die sich auf Sportler einlassen, profitieren von Soft Skills der Athleten, die auch im Berufsleben wertvoll sind: Motivation, Leistungsorientierung, Durchsetzungsfähigkeit, Belastbarkeit und Teamgeist. „Sportler können mit Niederlagen und Rückschlägen wie Verletzungen umgehen. Wenn etwas nicht gleich klappt, schieben sie nicht den großen Frust, sondern beißen sich durch und versuchen, trotzdem vorwärtszukommen.“ Diese Erfahrung haben so manche Ausbildungsleiter gemacht, die ihren Leistungssportler Azubis anfangs eher skeptisch gegenüberstanden, erzählt Sarsky. „Nach einem halben Jahr war auch der kritischste Ausbildungsleiter begeistert von den Sportler-Lehrlingen, weil sie Biss haben und die anderen Lehrlinge mitreißen.“ Das illustriert auch eine andere Geschichte: Ein Trampolinspringer des bayerischen Olympiastützpunkts verletzte sich am Wochenende bei einem Wettkampf, doch am Montag war er pünktlich um acht Uhr an seinem Ausbildungsplatz – wenn auch mit blutiger Nase. „Da sagte der Ausbilder zu ihm, andere Lehrlinge hätten wegen so etwas vier Tage krank gemacht“, erzählt Sarsky. „Sportler sind schon ein besonderer Schlag.“ Und oft zu mehr fähig, als ihnen ihr Umfeld zutraut. Oliver Zeidler etwa hat die Vorschläge seines Laufbahnberaters damals in den Wind geschossen und lieber seine eigenen Ideen verfolgt, denn: „Ich lasse mir nicht sagen, dass etwas nicht möglich ist, wenn ich weiß, dass ich es schaffe."